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Leningrad und  Skt. Petersburg- Gedanken

LETI (de)  Geschichteder Stadt   

Nach Leningrad kam ich erstmals Anfang September 1961 als Student des LETI und studierte dort bis  1967. 1970 verteidigte ich dort meine Dissertation. Leningrad  war für mich wie eine zweite Heimat und das Studium, Kultur und Flair der Stadt boten viele Parallelen zu meiner Heimatstadt Dresden. Vor allem der Kontakt mit den Leningradern hinterließ einen tiefen Eindruck. Das Studium und die Promotion am Lehrstuhl FAWT des  LETI und der Einfluss der wissenschaftlichen Schule der renommierten Universität, das Zusammenleben mit den Menschen, der Umgang mit der Geschichte der UdSSR und die Beherrschung der Sprache prägten wesentlich mein technisches Gedankengut und das Verständnis des Landes und seiner Menschen und legten das Fundament meines Berufslebens.

Es ist wohl nicht vermessen, die Stadt und ihre Menschen , ihr kulturelles und wissenschaftliches Flair mit einem funkelndem Diamant von einmaliger Schönheit und Facettenreichtum zu vergleichen.

2003 feierte die Stadt ihr 300. Jubiläum und ihre Geschichte ist grandios. Einigermaßen umfassende persönliche Gedanken und Bilder zu neun Jahren Studium, Arbeit und  Leben in der Stadt sind unmöglich hier darstellbar.

Erinnerungen an Zeit meines Lebens in Leningrad :

Als Studenten erlebten wir die Stadt zunächst aus der Perspektive der Hochschule und eines Studenten des 1.Studienjahres, aber zunehmend auch als ein Ballungs- und Kraftzentrum der sowjetischen Wissenschaft und Industrie, mit enormer Zahl  wissenschaftlich-technischer Institute und "Hochtechnologie"- Produktion. Die gewaltige Konzentration der geistigen Elite des Landes war deutlich zu spüren. Besonders bei unseren organisierten Industrie- Exkursionen, bei Informationen zur Vielzahl der Forschungs- und Entwicklungs-Organisationen, bei der indirekten Wahrnehmungen zur Zahl der (geheimen) "Postkasten- Betriebe" und auch in der Arbeit der Lehrstühle der Hochschule mit der Industrie der Stadt war die Ausstrahlung der Stadt enorm. Beispielsweise waren die Nutzungsmöglichkeiten höchst leistungsfähiger wissenschaftlicher Bibliotheken incl. der Bibliothek der AdW der UdSSR in späteren Aufenthaltsjahren sehr wertvoll, eine enorme Zahl von Fachbücher incl. vieler westlicher Übersetzungen war auch im Buchhandel verfügbar und sie waren spottbillig .Meine Bücherkisten bei der Abreise nach 9 Jahren wogen ca. 300 kg.

Mein Aufenthalt (1961-1970) fällt in die Chruschtschow- Ära. In dieser Phase erlebte das Land bekanntlich eine deutliche Abkehr von der Zeit der Stalinschen Diktatur in all ihren menschenverachtenden, den Sozialismus- Gedanken pervertierenden Praktiken. Die Erfolge der sowjetischen Raketentechnik wurden im Kosmos öffentlich. Neue Hoffnung war im Lande weithin spürbar, obwohl wir ausländischen Studenten stark von der offiziellen Informationspolitik der Hochschule und der örtlichen Medien abhingen und viele Publikationen und Informationen in der Anfangszeit sprachlich bedingt und wohl generell für einfache Leute nicht zugänglich waren. Die DDR- Informationspolitik war ja, wie wir meist erst später verstanden, weitgehend ungeeignet, wichtige Geschichts-Wahrheiten zu erfahren. Die Versorgungslage der Bevölkerung in Leningrad (uns interessierten ja fast nur die Grundnahrungsmittel, Bücher, Konzertkarten u.a.) war auch in den strengen Wintern stabil und ausreichend, trotz üblicher Schlangen in den Geschäften. Es war uns auch klar, dass Leningrad neben Moskau eine sehr bevorzugte Stellung einnahm, seinem wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Stellenwert im Lande entsprechend, sicher auch eingedenk der katastrophalen Zeit der Blockade! Ich erinnere mich aber auch an Versuche zur "Erziehung zu kommunistischen Verhaltensweisen" durch die KPdSU im Zuge eines Parteitages- die kostenlose Ausgabe von Brot zu den Mittagessen der Gaststätten und in den Studenten-Mensa des Landes. Das Experiment wurde sehr schnell wieder beendet, die Bauern und Siedler fanden für kostenloses Brot gute Verwendung in ihren privaten Viehställen, die Menschen waren "nicht reif" für derartige Ideen.

Das kulturelle Niveau der Stadt war verwirrend hochkarätig, vielfältig und stark beeindruckend - eine Vielzahl von Museen, Konzertsälen, Theatern, Bibliotheken, genau wie das kulturelle Bildungsniveau vieler Menschen. Der enorme "Hunger" der Menschen in den Buchläden der Stadt auf alle Neuerscheinungen, die Menge der Lesenden in Straßenbahnen, Bussen, Metro  unterschied sich empfindlich selbst vom äußeren Erscheinungsbild bei meinen häufigen Moskau- Besuchen. Das Erlebnis der russischen Klassiker und hervorragender Solisten in den Konzertsälen und der Oper waren für uns stets  freudige Höhepunkte im Alltag, Tickets dafür waren günstig, aber schwierig zu beschaffen.

Mein Start (1961) lag weniger als eine Generation nach dem Ende des Sieges der UdSSR über Nazideutschland. Die Stadt vermittelte besonders massiv die Gräuel des faschistischen Vernichtungsfeldzuge! 900 Tage Blockade einer Millionenstadt brachten furchtbares Leid und Opfer. Fast jede Familie unserer Kommilitonen oder Hochschullehrer war direkt betroffen. Unsere Teilnahme an Ehrungen auf dem Heldenfriedhof "Piskarjowskoje"- dort ruhen ca. 500 000 Tode der Blockade- war für mich immer eine schwere moralische Last. Trotzdem spürten wir seitens der Leningrader keinen persönlichen Hass gegen uns DDR- Studenten, wenngleich bei Älteren oft deutliche Distanz. In meiner noch jugendlichen Naivität glaubte ich, dass dies vor allem an dem Verständnis der Menschen liege, dass wir Vertreter eines sozialistischen Deutschlands sind, das die gleichen Ziele wie die UdSSR hat. Später, nach 1990, erkannte ich, dass es wohl eher ein Wesenszug des russischen Menschen ist, in Frieden und Harmonie mit seinen Nachbarn leben zu wollen, denn der Sozialismusgedanke war für viele Russen kein ideologisches Denkmotiv.  Für unsere russischen Kommilitonen waren wir DDR- Studenten beinahe gleich, wir spürten keine Unterschiede im Umgang. Typisch dafür mag vielleicht eine Episode sein: eine sehr sympathische Russin sagte mir einmal, sie würde mich schon gern wiedersehen, wenn allerdings ihre Großmutter davon erführe, dass sie einen Deutschen trifft, dann würde Großmutter sie sicher "erschlagen".Während der Studienzeit lernte ich auch die Praxis von technischen Hochschulen kennen,  Forschungs- und Entwicklungsaufträge für die Industrie auf Basis von Wirtschaftsverträgen zu bearbeiten und dafür neben Hochschullehrern und Aspiranten auch Studenten höherer Studienjahre zu beschäftigen. Das  "Versuchs- und Konstruktionsbüro der FAWT" war für mich mehrere Jahre ein Ort, wo ich mit sowjetischen Kollegen oft bis spät abends arbeitete und viele persönliche Kontakte hatte ( siehe auch Leti_heute_de.htm)

Es wunderte mich aber schon damals zunehmend, dass in unseren ideologisch betonten Studienfächern die Rolle des proletarischen Klassenstandpunktes - im Gegensatz zur dessen extremer Betonung in der DDR- kaum eine Rolle spielte. Eine massive sozialistische ideologische Erziehung war in der gesamten Gesellschaft im Unterschied zur DDR, der Nahtstelle zur BRD, nicht ausgeprägt, verschiedene Ansätze einer nationalen Großmacht- Ideologie waren jedoch deutlich spürbar. Der Marxismus- Leninismus und die Marx'sche Lehre von der Ökonomie der Warenwirtschaft wurde mit deutlichen Deformationen in einer "nationalen" Fassung gelehrt. Zurückblickend stelle ich heute fest, dass diese deutlichen Erscheinungen der Entideologisierung der Gesellschaft schon zu dieser Zeit für mich meist eher unbewusste und undeutlich Fragen aufwarfen. Die Analysen führender marxistischer Historiker und Zeitzeugen der Gorbatschow-Zeit bestätigen, dass wohl dieser Mangel der Weltanschauung der Menschen, incl. der Partei-Funktionäre und Staatsdiener, eine wichtige Wurzel der Ergebnisse  der Gorbatschow- Politik waren, die letztlich politische Alternativen zum bedingungslosen Zusammenbruch des sozialistischen Gesellschaftssystems nicht nutzten.

Zu den Besuchen in Skt. Petersburg (2005, 2010)  möchte ich nur wenige Eindrücke zusammenfassen:

Im Zeitraum nach 1991 überlies die Politik der Jelzins, Gaidars und Tschubais und deren Hintermänner und "Berater" Russland  und die Stadt Skt. Petersburg einem chaotischen neoliberalem Privatisierungsprozess. Der bekannte Ostexperte P. Scholl- Latour sagt dazu u. E. sehr treffend [Peter Scholl-Latour "Russland im Zangengriff" (Putins Imperium zwischen NATO, China und Islam) ISBN 978-3-548-36979-2]  :"Nach dem Zusammenbruch des marxistisch- leninistischen Experiments wurde das heilige, gepeinigte Russland im Namen der Perestroika einer westlich inspirierten Form der Demokratie, der freien Marktwirtschaft ausgeliefert, die sich als abscheuliches Zerrbild des Kapitalismus, als Karikatur pseudoliberaler Raffgier und krimineller Bereicherungssucht entlarvte". Eine Regelung der Politik beschränkte diesen Ausverkauf nationalen Eigentums: Betriebe und Einrichtungen mit strategischer Bedeutung für den Staat unterlagen deutlichen Einschränkungen beim Verkauf an (ausländische) Privatunternehmen/-unternehmer. Der große Prozentsatz derartiger Objekte in der Stadt hat, obwohl dazu offizielle Daten fehlen, zu einer deutlich geringeren "Privatisierungsrate" beigetragen, was sicher nicht nur positive wirtschaftliche Aspekte hatte. Den "Leningradern" erhielt das aber mittelfristig mehr soziale Sicherheit, Anerkennung ihrer Lebensleistung und den Stolz auf ihre Stadt.

Die Versuche in der Putin- Ära, das Land diesem Strudel des Zerfalls zu entreißen und durch eine starke zentrale Staatsmacht wieder zurück zu seiner früheren Rolle als Weltmacht zu bringen, war für Skt. Petersburg ein wichtiger, wenn auch halbherziger und weitgehend verspäteter Schritt, das intellektuelle und technologische Potential und den Reichtum der Stadt an Künstlern, architektonischen Kleinoden und Museen von Weltgeltung zu rekonstruieren.

Der Besucher, der die Stadt über ein halbes Jahrhundert kennt, sieht - vorwiegend im Stadtzentrum und an renommierten Standorten- viele Zeichen einer immobilien- orientierten Renaissance. Das öffentliche Leben -im Zentrum der Stadt- hat sich heute durch Kapital russischer und ausländischer Investoren und die in den letzten Jahren deutlich gestiegene Zahlungskraft der Menschen zweifelsohne dem Niveau der Hauptstadt Moskau angeglichen. Vor allem russische Finanzkapital dominiert in der Stadt und treibt gleichzeitig Immobilienpreise, Hotelkosten usw. in exorbitante Höhen.  Die Stadt wurde seit einigen Jahren von beinahe allen renommierten Handelshäusern und "Brands"  dieser Welt als Markt entdeckt, in der Innenstadt ist das auf jeden Schritt deutlich, aber auch die russischen Handelsketten und Unternehmen stehen dem Prunk der Geschäftsläden und der Marketingstrategie westlicher Firmen kaum nach. In bestimmter Weise gewinnt man den Eindruck, das die Politik von Peter dem Großen ( Peter I.) , des Idols vieler Russen, heute von V. Putin & D. A. Medwedjew weitgehend kopiert wird

Die Ausstrahlung der Stadt mit ihren hunderten, architektonisch reichen Palästen, ihren wunderbaren Parks und Kanälen, ihren prächtigen kilometerlangen majestätischen Uferpromenaden und imposanten Schlössern der Umgebung stellt heute deren oftmals tristes Erscheinungsbild der 70er und 80er Jahre deutlich in den Schatten. Während  die Werterhaltung und Pflege der Gebäudesubstanz bis 1990 eine kritische Situation erreichte, präsentiert sich die Stadt, vor allem im Zentrum und natürlich besonders während der Weißen Nächte, wieder von ihrer schönsten Seite. Ihre neuen Eigentümer können es sich offenbar leisten, viel Geld zu investieren.

Der Besucher gewinnt der Eindruck, der auch offiziell vermittelt betont wird, dass das Leben der wissenschaftlichen Einrichtungen, die Arbeit der Giganten der Schwerindustrie, des Schiffs- und Maschinenbaus und der Elektronik- und Geräteindustrie wieder in stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen Bahnen läuft. Das enorme Wachstums des Neubaus an Wohnungen- allerdings auf Basis eines privaten Immobilieninvestments- bei weiterer Expansion der Stadt und vieler neuer Bürogebäude, Hotels und Geschäfte unterstreichen das.

Allerdings zeigte z.B. der Besuch meiner Hochschule LETI auch 2010 einen erschreckenden Zustand des Verfalls der Gebäude. Die letzten Rekonstruktionsmaßnahmen wurden offenbar noch zu Sowjetzeiten finanziert, danach wurde das verfügbare Geld für technische Geräte , Computer usw. eingesetzt.  Auch die altehrwürdigen historischen Universitätsgebäude auf dem Vasiljewskij Ostrow ( im Zentrum der Stadt aus der Zeit von Zar Peter I.) machten auch nach der 300- Jahr- Feier der Stadt einen erschreckenden Eindruck. Ergänzt wird dieser Eindruck zur Lage des Hochschulwesens durch Erinnerungen an Schilderungen meiner ehemaligen Kommilitonen, heute (2005) Lehrstuhlinhaber und Professoren, über welche katastrophal schlechte Finanzausstattung die Hochschule verfügt und welch miserable Gehälter gezahlt werden, sodass 2-3 Arbeitsstellen die Regel eines Professors oder Hochschullehrers sind, um wirtschaftlich zu existieren. Und das nicht etwa in einer drittklassischen Hochschule irgendwo im Lande, sondern in der Hochschule , an der Alexander Popow das Radio erfand und Sch. Alfjorow - einziger Nobelpreisträger für Physik Russlands- wirkte.  ( siehe auch Ein Erfolg  von Skolkowo ist möglich, wenn man die Entwicklung der Wissenschaften im Lande voranbringt- russisch)

Auch ein Spaziergang durch etwas abgelegene Wohn- und Industriegegenden- z.B. auf der Vyborger Seite, als Gegend meines Studentenwohnheimes mir von früher vertraut -  zeigt extreme Verschleiß- und Verfalls- Erscheinungen, Zeichen fehlender Mittel zur Werterhaltung und für Neuinvestitionen. Die Privatisierungspolitik der Wohnungssubstanz unter Jelzin führte zu einer kurzfristig sozialen Lösung-  die kommunalen Wohnungen wurden 1990 ins Privateigentum ihrer Mieter übertragen. Für viele der neuen Eigentümer lst jedoch die Werterhaltung des Gemeinschaftseigentums längerfristig  finanziell sehr schwierig, eine  finanzielle Gratwanderung . Attraktive Immobilien sind inzwischen in den Händen russischer Finanzhaie, die große Masse einfacher Wohn- Immobilien lebt mit den Finanz- Sorgen ihrer Eigentümer, der ehemaligen Mieter.

Der Einfluss von (teilweise) krimineller Bereicherungssucht ist auch äußerlich nicht zu übersehen. Natürlich spielen auch die Effekte der weltweiten Globalisierung und des Preisdruckes, der Veränderung der Wertstruktur der Produktion und die schwere Last der ehemaligen Dominanz der Verteidigungsindustrie in der Stadt  eine wichtige Rolle. Auch die daraus abgeleitete notwendige Neustrukturierung des Wirtschaftslebens geschieht nach den Prinzipien des Turbo- Neo- Liberalismus.

Die Besuche der Stadt heute riefen in mir eine Masse schöner und wertvoller Erinnerungen aus der Zeit der Jugend wach, einen kleinen Teil konnte ich hoffentlich bei den Besuchen 2005/2010 meinen Gästen weitergeben

Für den Touristen ist die Stadt ein prächtiges Erlebnis. Die Lebenskultur der Menschen und das intellektuelle Image der Stadt und deren kulturelles Flair nehmen auch heute eine unbestrittene Spitzenposition im Lande ein. Aber man spürt auch- Ihre Bewohner - zwei Generationen nach "meiner Zeit" - gleichen ihren Lebensstil immer stärker westeuropäischen Formen an. Ihre Einwohner machen Skt. Petersburg zu einem einzigartigen funkelndem Diamant von einmaliger Schönheit und Facettenreichtum. Und die in Russland  alt- einher gebrachte Frage: "Moskau oder Skt. Petersburg- welche Stadt ist schöner?" - beantwortet sich auch heute verstärkt wieder eindeutig:

 

Skt. Petersburg ist die schönste Stadt Russlands und eine der schönsten Städte der Welt ! 

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Bilder oben (von l. n. r.):2005 mit meinem Kommilitonen Sigmar Radestock und Frau in einem LETI-Auditorium ; Blick von der Isaak- Kathedrale während der Weißen Nächte, Mahnmal für die 900.000 Toten der faschistischen Blockade auf dem Piskarjow- Ehrenfriedhof, das Hauptgebäude des "LETI" (2005);